Montag, 18. Mai 2015

Rom und die Süße des banalen Lebens



Da bin ich wieder, weltwärts gewandt nach dem nassen Winter, in dem ich kaum geschrieben, aber viel Italienisch und interessante Leute kennen gelernt habe. 
Eine von ihnen hat direkt eine Lesung für mich organisiert, in ihrem Salon am Campo de‘ Fiori. Danke, Anke!



Rom ist immer noch eine schöne und immer noch eine anstrengende Stadt: im Winter bricht der Himmel auseinander und schüttet so lange Wasser aus, bis auch ich davon überzeugt bin, dass hier Afrika beginnt – wenn nämlich der Verkehr zum Erliegen kommt. 
Warum? 
Weil es regnet. 
Das ist so in Entwicklungsländern, Gullis verstopft, Unterführungen überschwemmt, stop and go über 20 km hinweg….
Und im Sommer schwärmen die Touristen und die Motorinofahrer aus, verstopfen die Straßen und strapazieren meine Sinne und meine Reaktionsfähigkeit. (Immer wieder erstaunt mich das Vertrauen, das die Motorradfahrer in mich setzen, wenn sie in haarigen Situationen – gleichzeitig! – von rechts und links an mir vorbeipreschen. Wissen sie denn nicht, dass ich mir zum Schutz meiner Nerven bereits in Libyen abgewöhnt habe, in die Spiegel zu schauen?)

Trotzdem genieße ich Italien, genieße es, zu beobachten, ohne selber so sehr im Fokus zu stehen, wie das die ganzen letzten Jahre (als großgewachsene hellhäutige Frau) in arabischen oder afrikanischen Ländern nun mal der Fall war. 
Ich genieße das Reisen. Und wenn ich eine so morbid-schöne, bis zum Erbrechen mit Menschen gefüllte Stadt wie Venedig wieder verlasse, genieße ich es auch, wieder in Regionen zu kommen, in denen der Latte Macchiato 1,30 statt 13 Euro kostet und etwas vom normalen Italien jenseits der Inszenierung durchschimmert.
Gutes Essen, zum Beispiel, gibt es in jeder Trattoria abseits der Straße. Das Lokal neben der großen Autobahnbaustelle, in der fast nur Arbeiter verkehren? Serviert Pasta mit Trüffel! Allerdings auch unerwartet heitere Momente, als es versucht, sich kosmopolitisch zu geben. An der dreisprachigen Speisekarte hat sich offenbar jemand mit Internet-, nicht jedoch mit Sprachkenntnissen ausgetobt, deshalb bietet sie Nudeln mit Erbsen und Beidrehen an, ferner Nudeln mit Schinken und Beidrehen oder mit Pilzen und Beidrehen(Auf Italienisch: Pappardelle con piselli e panna, con prosciutto e panna, con funghi e panna). 
Wie kommt man dazu, Herr im Himmel, panna, also Sahne, mit Beidrehen zu übersetzen? Ich schaffe es nicht, meine Bestellung aufzugeben, weil Lachtränen mir Mascara in die Augen reiben und den Blick vernebeln. Das Weiterblättern macht es auch nicht besser: Risotto con funghi wird dort mit „Lachen“ übersetzt, gleich zweisprachig, Lachen mit Pilzen oder laughing with mushrooms. Nun ist es aus mit mir, ich kreische vor Vergnügen, liege japsend auf dem Tisch, „Mama, du bist peinlich“ „Du bist ja ganz rot im Gesicht!“ „Dir läuft die Schminke runter!“, rufen meine Töchter.

Wieder zurück in Rom trete ich meinen Nebenjob in der Herder-Buchhandlung am Vatikan an, wo ich vom Panoramafenster (in Ruhe!) die Touristen auf dem Petersplatz beobachten kann. Sehe, wie sie stundenlang Schlange stehen, um in den Dom zu gelangen. Wie sie anschließend wieder warten, bei Nieselregen säuberlich aufgereiht am großen Taxistand des Piazza Pio, da in Rom beim ersten Anzeichen von grauen Wolken kein Taxi mehr aufzutreiben ist, und stolz die wichtigste antrainierte Touristentugend beweisen: Geduld.
Die Süße des italienische Lebens wird eindeutig überbewertet.
Oder vielleicht wird das Vergnügen des Reisens in Zeiten des Massentourismus überbewertet? 

Und, das Wichtigste überhaupt, das Wichtigste zum Schluss: 
Ich habe mein Kinderbuch veröffentlicht. „Marissa. Abenteuer in Marokko“ ist ein Märchen für Kinder ab 8 Jahren. Erhältlich über Amazon, auch in Italien. Das wunderschöne Cover stammt übrigens von Brigitte Stühler.




Und jetzt widme ich mich tatsächlich wieder dem Schreiben. Und dem Sommer. 
Ciao, baci da Roma.





Montag, 24. November 2014

Rom sehen - und dann?


Es tut gut, von den Händlern auf dem Wochenmarkt routiniert „Bellezza“ gerufen zu werden (wie ALLE anderen Frauen auch, aber das klammere ich schön aus!), denn als ich einen Pulli anprobiere und in den Spiegel sehe, erblicke ich im fahlen Licht der Herbstmorgensonne ein verknittertes Gesicht, durch das sich ein großer Strich zieht, von der Nase bis zum Kinn, landläufig als Falte bezeichnet. 
Ich erschauere. Irgendwann in den letzten Wochen muss ich gealtert sein. Oder die Aus-leuchtung in Marokko war vorteilhafter. 
Pfui kalte Sonne, pfui europäisches Herbstlicht!

Siamo arrivati a Roma!

Es ist eine schöne Stadt, an (fast) allen Ecken, imposant und prächtig. Und sehr katholisch. Eine fein ausgeschmückte Kirche nach der anderen. Hier Caravaggio, dort 1000 Jahre alte Fresken, das Blau immer noch so kräftig wie anno dazumal, weil die Farbe aus zerstoßenem Lapislazuli gewonnen wurde. Von den Schätzen des Petersdom ganz zu schweigen. Allerdings wird die Kunstfreude dort stark getrübt durch die schiere Masse der anderen Kunstfreunde: ihre Körper, Stimmen, Gerüche lenken mich so stark ab, dass ich nur wenig von der Schönheit der Kirche aufnehmen kann. 
Und das ist wirklich das Problem von Rom: überall, wo es schön ist, sind zu viele Menschen. Und dort, wo es nicht schön ist, sind zu viele Autos.

In Libyen musste man den Müll ignorieren, um glücklich zu werden, hier den Verkehr. Also fahre ich wie eine Libyerin, immer auf der Standspur am Stau vorbei – aber bitte nicht meinem Mann sagen; wenn er das macht, ist das natürlich total daneben. 

Wie viele Länder des Südens hat auch Italien seine eigenen ungeschriebenen Gesetze. Man kann sich vorsichtshalber überall deutsch verhalten, oder man probiert aus, was (de facto) erlaubt ist, indem man sich ein bisschen aus dem Fenster lehnt. Kann auch mal schiefgehen, macht aber Spass. ´
Durch die engen Gassen von Amalfis Innenstadt fahren? Geht; der Verkehrspolizist verzieht keine Miene. In das beschränkt befahrbare historische Herz von Rom? Geht auch, weil CD-Kennzeichen.
Als ich jedoch neulich auf den Stellplätzen einer diskret versteckten Polizeiwache parkte (halb unwissentlich, weil schlecht beschildert – und wen kümmert ein Parkverbotszeichen, wenn trotzdem überall Autos in zivil stehen?), wurden mir auf raffiniert-italienische Art meine Grenzen aufgezeigt: von der Via del Corso zurückkommend, stellte ich fest, dass ich zugeparkt und der Fahrer des Privatwagens der „forze polizia“ nirgendwo ausfindig zu machen war…. 
Der Verkehrspolizist wusste von nichts, sah keinen Handlungsbedarf, kannte auch keine Polizeiwache in der Nähe(!). Minutenlanges Hupen und Nachfragen in den Cafés am Platz brachten kein Ergebnis. Als ich mich schließlich über den Bürgersteig und durch die Kolonnaden hindurch retten wollte, stellte sich mir der aufgebrachte Polizist entgegen:
Papiere etc; Sie dürfen doch nicht auf dem Gehweg fahren, Signora!
Aber ich bin zugeparkt worden, das haben Sie doch mitbekommen. Wie lange hätte ich noch warten sollen?
Sie dürfen keinesfalls auf dem Gehweg fahren, Signora!
Aber ich bin zugeparkt worden, was hätte ich denn tun sollen?
Sie dürfen keinesfalls auf dem marciapiede….
Am Ende ließ mich der vermeintlich Ahnungslose mit folgenden Worten ziehen: „Parken Sie nie wieder auf einem parcheggio der Polizei!“ 
Versprochen, mach ich nie wieder, sofern ich ihn als solches erkenne! (Ich werde mich statt-dessen an die Taxistände halten, obwohl mein Mann behauptet, dort nicht ohne aufgeschlitzte Reifen davonzukommen.)

Und sonst:
Die Jüngste will keine schönen Gebäude sehen, sondern enge Gassen, Bettler und dunkelhäutige Händler; sie trägt bei ihrem ersten Besuch auf der Piazza Navona stur ihre geblümte Jellabah. Die Älteste wundert sich, dass eine Demonstration in Italien keine Sache ist, vor der irgend-jemand Angst hat, weder die Passanten noch die Regierung. Mein Mann vermisst das französische Brot und ich meine Freundinnen.

Die Fahrweise der italienischen Vespa- und Motorradfahrer lässt darauf schließen, dass sie die gleiche Todessehnsucht verspüren wie die Moto-Fahrer in Marrakesch. Dort mag übertriebenes Vertrauen in Allah die Ursache sein, aber hier? Die Sucht nach dem täglichen Adrenalinkick?

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Ich weiß nicht, ob ich den Blog weiterführen werde, ob das Leben in Italien so viel zum Schreiben hergibt. Obwohl es manchmal chaotisch ist und man ständig aufpassen muss, nicht übers Ohr gehauen zu werden (Kellner! Wechselgeld!), zeigen meine Alltagserfahrungen, dass eben vieles klappt und nur manches nicht – anders als in Arabien, wo man Geduld und Genüg-samkeit lernen musste und sich dann über die Maßen freute, wenn Erwartungen tatsächlich erfüllt wurden.

Außerdem arbeite ich an einem neuen Romanprojekt. Vielleicht stelle ich Auszüge davon in den Blog? 
On verra. 
A la prochaine. 
Ciao. 









Mittwoch, 6. August 2014

Die Leere und die Fülle


Eigentlich hatte ich vor, diesen Beitrag folgendermaßen beginnen zu lassen: 
„Ich sitze in einem Hotel in Rabat, ich habe kein Haus mehr. Es ist Sommer, es ist Ramadan, und ich versuche, vor 21 Uhr etwas Essbares für die Familie aufzutreiben. 
So schließt sich der Kreis. 
Vor fast drei Jahren kam ich hier mit meinen Kindern an. Ich hatte noch kein Haus, es war heiß, es war Ramadan, und ich versuchte, tagsüber etwas Essbares aufzutreiben.“  --- 
Aber die Anstrengungen des Umzugs haben mich schachmatt gesetzt; wenn ich nichts zu tun hatte, habe ich nichts getan, außer in den hellen Himmel zu starren. Und so komme ich erst später, schon lange nicht mehr im Hotel und in Marokko, zum Schreiben.

Jetzt ist es die berüchtigte Leere, die eine Leidensgenossin erst vor kurzer Zeit benannt hatte und die sich wie eine weiße Wüste in mir auszubreiten droht, gegen die ich anschreibe.
Eine innere Leere, die Folge ist von wochenlanger hoher Belastung bei gleichzeitiger Verdrängung jeglicher Gefühle ebenso wie Fragen nach der Zukunft und nach der Summe der Verluste.
Eine Leere, die ich mir –natürlich- nicht vorstellen konnte, als ich noch mit Highspeed hin und her flitzte: zwischen dem Schlachthof, wo ich neben stinkenden Hallen beim Amtsveterinär auf der Suche war nach einer Bescheinigung für den Transport des Hundes nach Deutschland, und dem Zuhause, wo ich den Ehemann, der wieder in die Arbeit musste, abzulösen hatte bei der Kontrolle der Containerbeladung. (Wo waren die Kinder? Keine Ahnung. Bei Freunden, alleine am Hotelpool? Nur gegen Mittag tauchte die Überlegung auf, wie viele Personen ich nun wo mit Nahrung versorgen müsste.)  

Also wieder zurück zum Resümee, das ich so gerne schon im Hotel angestellt hätte. 
Ist ein Stück meines Herzens in Marokko, oder, um größer zu sprechen, in der islamischen Welt geblieben? Natürlich. Wie in allen Angelegenheiten folgte auch hier die Anpassung unmerklich, und die Jahre an den unchristlichen Küsten des Mittelmeers haben ihre Spuren hinterlassen. 

So habe ich mir tatsächlich angewöhnt, an jeden in die Zukunft gerichteten Satz, z.B. auch die Antwort auf die Frage, ob wir uns dann nächste Woche bei der Botschafterin sehen, ein „Inshallah“ anzuhängen. 
Wie habe ich diese Floskel in den ersten Jahren gehasst, wenn ich den Klempner, der in der Türkei das Klo reparieren sollte, festlegen wollte, ob er denn am nächsten Tag damit fortfahren würde! Ein „So Gott will!“ erschien mir wie Hohn, wie ein Eingeständnis der vollkommenen Inkompetenz, Unzuverlässigkeit und Gleichgültigkeit des Handwerkers, und erzürnte mich unbändig. 
‚Entweder du weißt ob du kommen kannst oder du weißt es nicht, was ist denn so verdammt schwer daran, sich festzulegen; so werdet ihr es nie in die EU schaffen!‘, solche und ähnliche überhebliche Gedanken gingen mir durch den Kopf. 
Es hat einige Jahre gedauert, mindestens bis Libyen, bis ich mich in die Mentalität eingefunden hatte und begriffen habe, dass „Inshallah“ erstens oft wirklich nur eine Floskel ist. Dass diese Floskel zweitens von der Einsicht kündet, dass man nicht alles, eigentlich sogar recht wenig, im Leben steuern kann und man deshalb immer geduldig das Einverständnis einer höheren Macht einholen sollte – was natürlich in kolossalem Widerspruch steht zu der im Westen immer noch recht beliebten Illusion der Kontrollierbarkeit des eigenen Schicksals; und dem Zwang, dies auch zu tun. Und dass es drittens sogar höflicher ist, ein „Inshallah“ einzuschieben: platzt dann eine Verabredung, so ist das keinesfalls persönlich zu nehmen.

Zum Teil lebe ich diese Haltung inzwischen selber. Ich lege mich nicht mehr zu hundert Prozent fest und mache mir auch keine Gedanken darüber. Wenn ich keine Lust habe, sage ich eine Feier kurzfristig ab. Wenn der Klempner sagt, er wird um zehn Uhr kommen, nicke ich zustimmend, und wenn mir später einfällt, dass ich um 9 Uhr zum Frühstück verabredet bin, gehe ich selbstverständlich hin. Vielleicht bin ich um zwanzig nach 10 wieder daheim und der Klempner war noch gar nicht da; oder er hat sich wieder getrollt, als ihm niemand die Tür geöffnet hat, und kommt am Nachmittag wieder. In der Zwischenzeit spüle ich die Toilette mit einem großen Wasserschwall aus den Kanistern, die bei uns seit Afrika immerzu gefüllt in jedem Bad stehen.

Am deutlichsten habe ich meine kleine islamische Kulturwurzel bemerkt, als ich neulich in der Botschaft in Rom flotte deutsch-italienische Konversation betreiben wollte: mir ist am Ende meines Satzes, mit dem ich meine rasche Anpassungsfähigkeit (an Italien) demonstrieren wollte, nichts anderes eingefallen als: „Inshallah“!


Ein weiteres Beispiel:
Über die vermeintliche Unachtsamkeit, die viele Araber an den Tag legen, kann man sich täglich bis an den Rand des Herzinfarkts aufregen, oder man kann den Spieß umdrehen. 
Wenn ich in Marokko immer wieder zugeparkt werde und hupend warten muss, bedeutet es umgekehrt, dass ich meinen Wagen auch mal zehn oder zwanzig oder dreißig Minuten in dritter Reihe stehen lassen kann. Wenn ein Autofahrer raus möchte, wird er mich schon in der Reinigung / der Metzgerei / dem Blumenladen finden. 
Wenn mein Auto ständig Kratzer abbekommt, heißt es auch, dass ich mir bei einem engen Parkplatz keine Gedanken machen muss, wie ich die Tür aufbekomme oder hinausmanövrieren kann, ohne Spuren zu hinterlassen (gar nicht, etwas Verlust ist immer; aber damit können die anderen Autofahrer leben).

…und in fränkischen Städten sorgt es schon für lauten Unmut, wenn ich meine Freundin mit Kindern in der Fußgängerzone treffe, wir stehen bleiben, und manche Passanten tatsächlich einen Bogen um uns machen müssen. 
An dieser Stelle habe ich einen kleinen Kulturschock erlitten.







Freitag, 9. Mai 2014

Abenteuer in Ain Aouda


Ich weiß nicht, ob ich lachen oder verzweifelt sein soll. 
Da will ich über mein außergewöhnliches Leben berichten, und was kommt rüber: meine Welt sei klein und langweilig. 
Meine Tage haben, verdammt noch mal, Glamour, sieht das denn niemand?

Deshalb, auch nach dem ganzen Langeweile-Brimborium, eine kleine, feine, funkelnde Action-Geschichte: Abenteuer in Ain Aouda

Wir sind noch nicht lange in Rabat und waren mit einigen Frauen in der Nähe eines Vororts, Ain Aouda, wandern. In dem Jagdgebiet irgendeines Prinzen, dessen Namen ich vergessen habe, wo Wildschweine unseren Weg kreuzten und es nach wildem Oregano und Eukalyptus riecht. 
Nun stehe ich neben A. auf dem Markt und übersetze für sie. Sie will wissen, was das für ein Gewürz ist, aber so viel Arabisch spreche ich nicht.
„Probier‘ es doch einfach“, sage ich ungeduldig. 
Mir ist nicht wohl auf diesem sehr armen Suq, ich habe registriert, wie uns die Einheimischen beobachten; obwohl direkt vor den Toren Rabats gelegen, hat sich hierhin bestimmt noch nie eine Ausländerin verirrt. Wir sind Schaulustige der Armut und gleichzeitig exotische Exponate westlicher Lebensart, hier Funktionskleidung und teure Kamera vor der Brust, dort schlechte Zähne, Krankheit und Schmutz. Naja, bin auch selber schuld, genauso hatte ich ihn den Anderen angepriesen: nirgendwo sonst in Marokko würde sich mehr Authentizität finden lassen, inklusive des Gestanks des Tierkots und des Gedränges in den engen Gassen.
„Nee, ich kann doch nicht einfach probieren!“, entgegnet A.
„Doch, das machen alle so!“ 
Ich wollte gerade meinen Knoblauch bezahlen, aber nun nehme ich eine Prise des rötlichen Pulvers zwischen meine Fingerspitzen; die andere Hand hält den Geldbeutel fest umklammert. 
Hilft nichts. 
In dem Augenblick reißt ihn mir jemand aus der Hand, blitzschnell und kräftig, und rennt damit weg. Nein, das darf nicht sein! Ich habe es kommen sehen, aufgepasst, und jetzt ist es trotzdem passiert! Nein, nein, nein, nicht mit mir! Ich höre mich schreien, ein unnatürlicher, tierischer Laut, ich bin längst auf Autopilot, und der hat entschieden: Wut statt Angst, Adrenalin freigeben, Rucksack gut festhalten, immer wieder laut brüllen und nicht entkommen lassen. Ich hechte hinterher, schubse die Frauen in ihren einfachen Djellabas weg, springe über am Boden ausgebreitetes Gemüse, über lebende Hühner, schlage die gleichen Haken wie er, flitze an erschrockenen Gesichtern vorbei, „Uuaahh!“, ich werde ihn nicht entkommen lassen. Er ist nur eine knappe Armlänge von mir entfernt, ich starre konzentriert auf sein schwarzes Käppi.
Und rutsche nach meinem nächsten Sprung über eine Gänseschar in einer grünlichen, stinkenden Schmiere aus. Rappele mich sofort wieder auf, spüre keinen Schmerz, aber nun ist der Dieb mir natürlich einige Sekunden voraus. 
A. steht neben mir, Pfefferspray in der Hand, daheim in Deutschland ist sie Polizistin. Sie hatte ihn auf einer parallelen Spur verfolgt, in der Absicht, ihm den Weg abzuschneiden, wir rennen weiter, nun begleitet von einigen Uniformierten, hat das Schreien doch etwas gebracht?

Nein, wir haben ihn verloren, stehen auf einem großen Platz, die uns umringenden Gendarmen machen sich gar nicht die Mühe, mich zu befragen, reden mit den mitgerannten Händlern. 
„Cicatrices“, Narben im Gesicht, so beschreiben diese den Dieb, „Fransa?“, das gilt uns, die Händler verneinen, „Safara almaniya“ (Deutsche Botschaft), antworten sie. Herrje, hat sich das schnell herumgesprochen, wer wir sind, das Auto mit dem Diplo-Kennzeichen steht am anderen Ende des Suks, wahrscheinlich hat der ganze Markt jede unserer Bewegungen registriert, hatte ich doch recht mit meinem Gefühl. 
Ich werde in einen vergitterten Einsatzbus geschoben, A. wird zur Seite gedrängt, mein Kopf wummert, das Blut rauscht und pocht gegen die Schläfen. Wir fahren zu einem älteren Gendarmen, der in seinem Auto schläft, brummelig gibt er einige Anweisungen, die jungen Kerle, „forces auxilliers“ lese ich auf ihrem Rücken, nur Hilfspolizisten, rasen weiter zur Gendarmerie.

Als ich schon auf einem kaputten Holzstuhl sitze und mich mit meiner Story bis zum Hauptkommissar durchgearbeitet habe – inklusive der fünfmal wiederholten, immens interessanten Antwort, dass ich verheiratet sei und zwei Kinder habe – kommt auch A. an. Sie war geistesgegenwärtig genug, die zu Salzsäulen erstarrten anderen Ehefrauen vom Suk einzusammeln und sich den Weg zu mir durchzufragen. Entsetzt sieht sie mich an.
„Du Ärmste! War viel Geld drinnen? Brauchst du Hilfe? Soll ich dir beistehen? Ich hab meinen Google-Übersetzer dabei!“ 
Fragend blicke ich zurück. Hilfe wobei? Das ist das Leben, shit happens, irgendwie kann ich den Dieb sogar verstehen – keinen Job, keine Kohle, und da spazieren diese Sahnehäubchen von Europäerinnen an mit richtig, richtig viel Geld in der Tasche -, es gelingt mir zumindest nicht, ihn zu hassen, und auch sonst ist jeder Ärger nutzlos. 
Nein, ich fühle mich großartig, immer noch im Adrenalinrausch, wach und klar im Kopf, in meiner eigenen absurden Actionkomödie: Der Hauptkommissar nimmt gerade meine Hand, führt sie an seine Nase, um den Geruch meiner Haut mit dem Geruch des Geldes zu vergleichen, das seine Mitarbeiter soeben einem Verdächtigen abgenommen haben. 
Seine Augen leuchten, weil nun zwei rotwangig erregte Blondinen mit zerzausten Haaren, bloßen Armen und engen Jeans in seinem kahlen, schimmligen Büro sitzen. Später wird er mir noch versichern, dass er mich beschützen wird, und mir seine Handynummer geben, für alle Fälle; er sieht ein bisschen aus wie ein ergrauter Errol Flynn und fühlt sich wohl auch so.


„Elle est aussi mariée“, sie ist auch verheiratet, bemerke ich trocken, als er sich A. zuwendet, mit der wichtigsten Frage, die einem marokkanischen Gendarmen auf dem Herzen zu brennen scheint.




Freitag, 4. April 2014

Gelangweilte Ehefrauen... und ihre Kinder

In einem Anfall von bedingungsloser Hingabe an den Augenblick (den Augenblick, als ich mich damit im Spiegel sah), habe ich mir einen roten Seidenkaftan gekauft, so sehr 1001-Nacht, dass ein starkes Verlangen nach Glamour vonnöten sein wird, um den Mut aufzubringen, ihn jemals anzuziehen.
Das war ein Expat-Hausfrauen-Moment wie aus dem Klischeelehrbuch: Geht vormittags los, um Zwiebeln zu kaufen, und kommt mit einem Abendkleid zurück. 
Wie ich auf dieses Thema komme? Eine Leserin meines Romans bemerkte kritisch, er würde nur von gelangweilten Ehefrauen handeln. Ich stimme zwar nicht zu, die anfangs gelangweilten Damen lassen es schließlich ordentlich krachen und der Arabische Frühling trägt noch sein Übriges bei.
Aber sei’s drum. Vielleicht war es an der Zeit, auch deren Geschichten zu erzählen, auch den Diplo-Hausfrauen eine Stimme zu geben. (Und, by the way, was ist Betty Draper anders als eine gelangweilte Hausfrau? Und trotzdem sieht man ihr gerne zu.) 
Ich will mich nicht mit Betty Draper vergleichen, wohl aber das Expat-Ehefrauenleben mit dem 50er-Jahre-Ehefrauenleben. Aber im positiven Sinne.
Wie lange habe ich mich innerlich gegen diese besondere Art des Lebens, in das ich aufgrund von Heirat hineingeraten bin, gesträubt. Weil mein Kopf voller Vorurteile war, voller Urteile anderer über mein Leben. Urteile, die hauptsächlich auf Neid basieren.

Ja, ich habe viel Zeit bei Coffee-Mornings verbracht, bei denen die Gastgeberinnen sich enorme Mühe gegeben hatten, und habe staunend den Flachsinn der Gesprächsbeiträge über mich ergehen lassen – und es genossen, dass ich trotz meiner spöttelnden Haltung dazugehörte. 
(Danke an all die lieben Bekannten und Freundinnen, die mich die Jahre hindurch eingeladen haben! Ich weiß es zu schätzen! Bitte weiterhin einladen!)
Aber mal abgesehen davon, dass Hausfrauen und Mütter durchaus einiges zu tun haben und eine Menge Verantwortung tragen (das muss ich niemandem weiter erläutern, oder?) – ist es nicht schön, auch Zeit übrig zu haben, die man einfach so verschwenden kann? War das früher nicht mal ein erstrebenswerter Zustand?
(Früher, bevor das Nichtstun ein so schlechtes Image bekam.) 
Als ich vor Jahren einer Freundin in Deutschland erzählte, dass wir nach den Sommerferien, wenn die (kleinen) Kinder wieder in Ankara in der Schule untergebracht waren, erst mal im Kreise der Vertrauten eine Flasche Schampus am Pool köpften, um auf unsere wiedererlangte Vormittagsfreiheit anzustoßen, bemerkte sie bekümmert: „So viel Spaß habe ich nie!“
Soll ich mich deswegen schämen?

Aber um wieder zur Langeweile zurück zu kommen. Ja, die gibt es. Sie kann Einsamkeit bedeuten oder mangelndes Amüsement, weil man sich in einer fremden Sprache so verloren fühlt, lange Zeit nur auf den Ehemann fixiert ist und Freunde fürs Leben eben nicht so schnell ins Haus flattern wie Einladungen zu Empfängen.  Sie kann geistige Unterforderung bedeuten, wie jede Mutter mit kleinen Kindern oder jede/r mit einem stumpfsinnigen Job sie kennt. Nicht jeder findet Sinn in dem, was er tut.
Langeweile kann sich zu einem wahren Monster auswachsen. 
Und jeder von uns hat solche Momente im Leben, wenn nicht hinter, dann sicherlich noch vor sich. Das ist keine Exklusivität des Diplomatenlebens.
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Aber weil so viel von Kindern die Rede war, will ich heute auch noch von ihnen erzählen. 
Das war der Wunsch eines Lesers aus A.D., und schließlich ist ihr Leben genauso langweilig, abgehoben, ungewöhnlich, abenteuerlich und schwierig wie das ihrer Diplomatenmütter (hach, wie schick das klingt!)

Der Schulalltag beginnt mit morgendlicher Hetze, nichts Ungewöhnliches also. Wenn ich die Kleine frage, wie lange sie nun schon die selben Socken trägt, antwortet sie altklug: “Woher soll ich das wissen? Sich das zu merken, nimmt zu viel Platz weg in meinem Gehirn. Den brauch ich für wichtigere Sachen.“ 
9-Jährige scheinen intuitiv Weisheiten zu kennen, die man sich mit 39 erst wieder aneignen muss: Den Kopf freizuhalten für das Wesentliche, zum Beispiel.
Und der Schulalltag endet mit hastig abends hingeschmierter Hausaufgabe, weil man den späten Nachmittag mit Lesen, Spielen und der zeitraubenden Zuwendung an verschiedene Erscheinungsformen der Unterhaltungselektronik zugebracht hat.

Bleibt also das Wochenende: 
Einladung zum Kindergeburtstag bei einer marokkanischen Freundin. 
Als wir mit 15 Minuten Verspätung erscheinen, ist noch kein anderer Gast zu sehen. Die Tochter öffnet die Tür, ihre Mutter sei noch unterwegs, um Besorgungen zu machen. Anwesend sind bereits: die Haushälterin. Die Männer, die die riesige Hüpfburg auf einer Wiese hinter dem Haus aufbauen, der DJ, der später alle mit lautem, Herzen-zum-Stolpern-bringendem Bum-Bum quälen wird, und der Kameramann, der sich sofort in Stellung bringt, als er uns sieht. Schließlich kommt auch A. mit Tüten voller Chips und Saft. 
Kamera an, Strahlegesicht an. Küsschen rechts, Küsschen links, ein entzücktes Winken und Rufen von meiner Seite Richtung Kamera wird erwartet, dann darf ich gehen. 
Später erfahre ich, dass der DJ wohl seines Amtes walten durfte, nicht aber die Männer mit der Hüpfburg. Auf der Küstenstraße unterhalb der Wiese sollte im Laufe des Nachmittages der König vorbeifahren, der Anblick von hoch aufgeblasenem Plastik mit kreischenden Kindern obenauf war wohl eine Zumutung oder eine Sicherheitsbedrohung, vielleicht auch beides; ich weiß es nicht.

Nächstes Wochenende wieder Kindergeburtstag, bei einer deutsch-marokkanischen Familie. Alles wesentlich charmanter: weniger aufgedreht, in einem bezahlbaren Preisrahmen, mit selbst gebackenem Kuchen und nur leiser Bum-Bum-Musik. Aber, die Gastgeberin deutet bekümmert auf die Baustelle nebenan, mit beständigem Motorsägenlärm. 
Auf der Suche nach Abhilfe fällt mir die magische Wirkung des königlichen Namens von neulich ein. Einige entfernte weibliche Verwandte des Königs besuchen die Schule unserer Kinder, der Titel „Lalla“, Prinzessin, ist Teil ihres Vornamens.
„Du, wir haben doch die Lallas an der Schule. Kannst du dem Bauarbeiter nicht sagen, dass sie auch noch erscheinen werden und er mit dem Krach aufhören soll?“
„Ah, hahaha, das ist genial! Ich werde ihm sagen, dass die Töchter von Moulay  Soundso – die Frauen zählen ja nicht –; ich sag ihm, dass die Töchter vom Prinzen kommen werden!“ 
Die Hausdame verschwindet. Drüben wird noch einige Minuten geflext, dann sucht der Arbeiter von seinem Gerüst aus unsere Aufmerksamkeit, verbeugt sich tief mit der Hand auf dem Herzen, macht eine abwehrende Bewegung, wir nicken huldvoll. 
Und dann ist Ruhe.