Montag, 24. November 2014

Rom sehen - und dann?


Es tut gut, von den Händlern auf dem Wochenmarkt routiniert „Bellezza“ gerufen zu werden (wie ALLE anderen Frauen auch, aber das klammere ich schön aus!), denn als ich einen Pulli anprobiere und in den Spiegel sehe, erblicke ich im fahlen Licht der Herbstmorgensonne ein verknittertes Gesicht, durch das sich ein großer Strich zieht, von der Nase bis zum Kinn, landläufig als Falte bezeichnet. 
Ich erschauere. Irgendwann in den letzten Wochen muss ich gealtert sein. Oder die Aus-leuchtung in Marokko war vorteilhafter. 
Pfui kalte Sonne, pfui europäisches Herbstlicht!

Siamo arrivati a Roma!

Es ist eine schöne Stadt, an (fast) allen Ecken, imposant und prächtig. Und sehr katholisch. Eine fein ausgeschmückte Kirche nach der anderen. Hier Caravaggio, dort 1000 Jahre alte Fresken, das Blau immer noch so kräftig wie anno dazumal, weil die Farbe aus zerstoßenem Lapislazuli gewonnen wurde. Von den Schätzen des Petersdom ganz zu schweigen. Allerdings wird die Kunstfreude dort stark getrübt durch die schiere Masse der anderen Kunstfreunde: ihre Körper, Stimmen, Gerüche lenken mich so stark ab, dass ich nur wenig von der Schönheit der Kirche aufnehmen kann. 
Und das ist wirklich das Problem von Rom: überall, wo es schön ist, sind zu viele Menschen. Und dort, wo es nicht schön ist, sind zu viele Autos.

In Libyen musste man den Müll ignorieren, um glücklich zu werden, hier den Verkehr. Also fahre ich wie eine Libyerin, immer auf der Standspur am Stau vorbei – aber bitte nicht meinem Mann sagen; wenn er das macht, ist das natürlich total daneben. 

Wie viele Länder des Südens hat auch Italien seine eigenen ungeschriebenen Gesetze. Man kann sich vorsichtshalber überall deutsch verhalten, oder man probiert aus, was (de facto) erlaubt ist, indem man sich ein bisschen aus dem Fenster lehnt. Kann auch mal schiefgehen, macht aber Spass. ´
Durch die engen Gassen von Amalfis Innenstadt fahren? Geht; der Verkehrspolizist verzieht keine Miene. In das beschränkt befahrbare historische Herz von Rom? Geht auch, weil CD-Kennzeichen.
Als ich jedoch neulich auf den Stellplätzen einer diskret versteckten Polizeiwache parkte (halb unwissentlich, weil schlecht beschildert – und wen kümmert ein Parkverbotszeichen, wenn trotzdem überall Autos in zivil stehen?), wurden mir auf raffiniert-italienische Art meine Grenzen aufgezeigt: von der Via del Corso zurückkommend, stellte ich fest, dass ich zugeparkt und der Fahrer des Privatwagens der „forze polizia“ nirgendwo ausfindig zu machen war…. 
Der Verkehrspolizist wusste von nichts, sah keinen Handlungsbedarf, kannte auch keine Polizeiwache in der Nähe(!). Minutenlanges Hupen und Nachfragen in den Cafés am Platz brachten kein Ergebnis. Als ich mich schließlich über den Bürgersteig und durch die Kolonnaden hindurch retten wollte, stellte sich mir der aufgebrachte Polizist entgegen:
Papiere etc; Sie dürfen doch nicht auf dem Gehweg fahren, Signora!
Aber ich bin zugeparkt worden, das haben Sie doch mitbekommen. Wie lange hätte ich noch warten sollen?
Sie dürfen keinesfalls auf dem Gehweg fahren, Signora!
Aber ich bin zugeparkt worden, was hätte ich denn tun sollen?
Sie dürfen keinesfalls auf dem marciapiede….
Am Ende ließ mich der vermeintlich Ahnungslose mit folgenden Worten ziehen: „Parken Sie nie wieder auf einem parcheggio der Polizei!“ 
Versprochen, mach ich nie wieder, sofern ich ihn als solches erkenne! (Ich werde mich statt-dessen an die Taxistände halten, obwohl mein Mann behauptet, dort nicht ohne aufgeschlitzte Reifen davonzukommen.)

Und sonst:
Die Jüngste will keine schönen Gebäude sehen, sondern enge Gassen, Bettler und dunkelhäutige Händler; sie trägt bei ihrem ersten Besuch auf der Piazza Navona stur ihre geblümte Jellabah. Die Älteste wundert sich, dass eine Demonstration in Italien keine Sache ist, vor der irgend-jemand Angst hat, weder die Passanten noch die Regierung. Mein Mann vermisst das französische Brot und ich meine Freundinnen.

Die Fahrweise der italienischen Vespa- und Motorradfahrer lässt darauf schließen, dass sie die gleiche Todessehnsucht verspüren wie die Moto-Fahrer in Marrakesch. Dort mag übertriebenes Vertrauen in Allah die Ursache sein, aber hier? Die Sucht nach dem täglichen Adrenalinkick?

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Ich weiß nicht, ob ich den Blog weiterführen werde, ob das Leben in Italien so viel zum Schreiben hergibt. Obwohl es manchmal chaotisch ist und man ständig aufpassen muss, nicht übers Ohr gehauen zu werden (Kellner! Wechselgeld!), zeigen meine Alltagserfahrungen, dass eben vieles klappt und nur manches nicht – anders als in Arabien, wo man Geduld und Genüg-samkeit lernen musste und sich dann über die Maßen freute, wenn Erwartungen tatsächlich erfüllt wurden.

Außerdem arbeite ich an einem neuen Romanprojekt. Vielleicht stelle ich Auszüge davon in den Blog? 
On verra. 
A la prochaine. 
Ciao. 









Mittwoch, 6. August 2014

Die Leere und die Fülle


Eigentlich hatte ich vor, diesen Beitrag folgendermaßen beginnen zu lassen: 
„Ich sitze in einem Hotel in Rabat, ich habe kein Haus mehr. Es ist Sommer, es ist Ramadan, und ich versuche, vor 21 Uhr etwas Essbares für die Familie aufzutreiben. 
So schließt sich der Kreis. 
Vor fast drei Jahren kam ich hier mit meinen Kindern an. Ich hatte noch kein Haus, es war heiß, es war Ramadan, und ich versuchte, tagsüber etwas Essbares aufzutreiben.“  --- 
Aber die Anstrengungen des Umzugs haben mich schachmatt gesetzt; wenn ich nichts zu tun hatte, habe ich nichts getan, außer in den hellen Himmel zu starren. Und so komme ich erst später, schon lange nicht mehr im Hotel und in Marokko, zum Schreiben.

Jetzt ist es die berüchtigte Leere, die eine Leidensgenossin erst vor kurzer Zeit benannt hatte und die sich wie eine weiße Wüste in mir auszubreiten droht, gegen die ich anschreibe.
Eine innere Leere, die Folge ist von wochenlanger hoher Belastung bei gleichzeitiger Verdrängung jeglicher Gefühle ebenso wie Fragen nach der Zukunft und nach der Summe der Verluste.
Eine Leere, die ich mir –natürlich- nicht vorstellen konnte, als ich noch mit Highspeed hin und her flitzte: zwischen dem Schlachthof, wo ich neben stinkenden Hallen beim Amtsveterinär auf der Suche war nach einer Bescheinigung für den Transport des Hundes nach Deutschland, und dem Zuhause, wo ich den Ehemann, der wieder in die Arbeit musste, abzulösen hatte bei der Kontrolle der Containerbeladung. (Wo waren die Kinder? Keine Ahnung. Bei Freunden, alleine am Hotelpool? Nur gegen Mittag tauchte die Überlegung auf, wie viele Personen ich nun wo mit Nahrung versorgen müsste.)  

Also wieder zurück zum Resümee, das ich so gerne schon im Hotel angestellt hätte. 
Ist ein Stück meines Herzens in Marokko, oder, um größer zu sprechen, in der islamischen Welt geblieben? Natürlich. Wie in allen Angelegenheiten folgte auch hier die Anpassung unmerklich, und die Jahre an den unchristlichen Küsten des Mittelmeers haben ihre Spuren hinterlassen. 

So habe ich mir tatsächlich angewöhnt, an jeden in die Zukunft gerichteten Satz, z.B. auch die Antwort auf die Frage, ob wir uns dann nächste Woche bei der Botschafterin sehen, ein „Inshallah“ anzuhängen. 
Wie habe ich diese Floskel in den ersten Jahren gehasst, wenn ich den Klempner, der in der Türkei das Klo reparieren sollte, festlegen wollte, ob er denn am nächsten Tag damit fortfahren würde! Ein „So Gott will!“ erschien mir wie Hohn, wie ein Eingeständnis der vollkommenen Inkompetenz, Unzuverlässigkeit und Gleichgültigkeit des Handwerkers, und erzürnte mich unbändig. 
‚Entweder du weißt ob du kommen kannst oder du weißt es nicht, was ist denn so verdammt schwer daran, sich festzulegen; so werdet ihr es nie in die EU schaffen!‘, solche und ähnliche überhebliche Gedanken gingen mir durch den Kopf. 
Es hat einige Jahre gedauert, mindestens bis Libyen, bis ich mich in die Mentalität eingefunden hatte und begriffen habe, dass „Inshallah“ erstens oft wirklich nur eine Floskel ist. Dass diese Floskel zweitens von der Einsicht kündet, dass man nicht alles, eigentlich sogar recht wenig, im Leben steuern kann und man deshalb immer geduldig das Einverständnis einer höheren Macht einholen sollte – was natürlich in kolossalem Widerspruch steht zu der im Westen immer noch recht beliebten Illusion der Kontrollierbarkeit des eigenen Schicksals; und dem Zwang, dies auch zu tun. Und dass es drittens sogar höflicher ist, ein „Inshallah“ einzuschieben: platzt dann eine Verabredung, so ist das keinesfalls persönlich zu nehmen.

Zum Teil lebe ich diese Haltung inzwischen selber. Ich lege mich nicht mehr zu hundert Prozent fest und mache mir auch keine Gedanken darüber. Wenn ich keine Lust habe, sage ich eine Feier kurzfristig ab. Wenn der Klempner sagt, er wird um zehn Uhr kommen, nicke ich zustimmend, und wenn mir später einfällt, dass ich um 9 Uhr zum Frühstück verabredet bin, gehe ich selbstverständlich hin. Vielleicht bin ich um zwanzig nach 10 wieder daheim und der Klempner war noch gar nicht da; oder er hat sich wieder getrollt, als ihm niemand die Tür geöffnet hat, und kommt am Nachmittag wieder. In der Zwischenzeit spüle ich die Toilette mit einem großen Wasserschwall aus den Kanistern, die bei uns seit Afrika immerzu gefüllt in jedem Bad stehen.

Am deutlichsten habe ich meine kleine islamische Kulturwurzel bemerkt, als ich neulich in der Botschaft in Rom flotte deutsch-italienische Konversation betreiben wollte: mir ist am Ende meines Satzes, mit dem ich meine rasche Anpassungsfähigkeit (an Italien) demonstrieren wollte, nichts anderes eingefallen als: „Inshallah“!


Ein weiteres Beispiel:
Über die vermeintliche Unachtsamkeit, die viele Araber an den Tag legen, kann man sich täglich bis an den Rand des Herzinfarkts aufregen, oder man kann den Spieß umdrehen. 
Wenn ich in Marokko immer wieder zugeparkt werde und hupend warten muss, bedeutet es umgekehrt, dass ich meinen Wagen auch mal zehn oder zwanzig oder dreißig Minuten in dritter Reihe stehen lassen kann. Wenn ein Autofahrer raus möchte, wird er mich schon in der Reinigung / der Metzgerei / dem Blumenladen finden. 
Wenn mein Auto ständig Kratzer abbekommt, heißt es auch, dass ich mir bei einem engen Parkplatz keine Gedanken machen muss, wie ich die Tür aufbekomme oder hinausmanövrieren kann, ohne Spuren zu hinterlassen (gar nicht, etwas Verlust ist immer; aber damit können die anderen Autofahrer leben).

…und in fränkischen Städten sorgt es schon für lauten Unmut, wenn ich meine Freundin mit Kindern in der Fußgängerzone treffe, wir stehen bleiben, und manche Passanten tatsächlich einen Bogen um uns machen müssen. 
An dieser Stelle habe ich einen kleinen Kulturschock erlitten.







Freitag, 9. Mai 2014

Abenteuer in Ain Aouda


Ich weiß nicht, ob ich lachen oder verzweifelt sein soll. 
Da will ich über mein außergewöhnliches Leben berichten, und was kommt rüber: meine Welt sei klein und langweilig. 
Meine Tage haben, verdammt noch mal, Glamour, sieht das denn niemand?

Deshalb, auch nach dem ganzen Langeweile-Brimborium, eine kleine, feine, funkelnde Action-Geschichte: Abenteuer in Ain Aouda

Wir sind noch nicht lange in Rabat und waren mit einigen Frauen in der Nähe eines Vororts, Ain Aouda, wandern. In dem Jagdgebiet irgendeines Prinzen, dessen Namen ich vergessen habe, wo Wildschweine unseren Weg kreuzten und es nach wildem Oregano und Eukalyptus riecht. 
Nun stehe ich neben A. auf dem Markt und übersetze für sie. Sie will wissen, was das für ein Gewürz ist, aber so viel Arabisch spreche ich nicht.
„Probier‘ es doch einfach“, sage ich ungeduldig. 
Mir ist nicht wohl auf diesem sehr armen Suq, ich habe registriert, wie uns die Einheimischen beobachten; obwohl direkt vor den Toren Rabats gelegen, hat sich hierhin bestimmt noch nie eine Ausländerin verirrt. Wir sind Schaulustige der Armut und gleichzeitig exotische Exponate westlicher Lebensart, hier Funktionskleidung und teure Kamera vor der Brust, dort schlechte Zähne, Krankheit und Schmutz. Naja, bin auch selber schuld, genauso hatte ich ihn den Anderen angepriesen: nirgendwo sonst in Marokko würde sich mehr Authentizität finden lassen, inklusive des Gestanks des Tierkots und des Gedränges in den engen Gassen.
„Nee, ich kann doch nicht einfach probieren!“, entgegnet A.
„Doch, das machen alle so!“ 
Ich wollte gerade meinen Knoblauch bezahlen, aber nun nehme ich eine Prise des rötlichen Pulvers zwischen meine Fingerspitzen; die andere Hand hält den Geldbeutel fest umklammert. 
Hilft nichts. 
In dem Augenblick reißt ihn mir jemand aus der Hand, blitzschnell und kräftig, und rennt damit weg. Nein, das darf nicht sein! Ich habe es kommen sehen, aufgepasst, und jetzt ist es trotzdem passiert! Nein, nein, nein, nicht mit mir! Ich höre mich schreien, ein unnatürlicher, tierischer Laut, ich bin längst auf Autopilot, und der hat entschieden: Wut statt Angst, Adrenalin freigeben, Rucksack gut festhalten, immer wieder laut brüllen und nicht entkommen lassen. Ich hechte hinterher, schubse die Frauen in ihren einfachen Djellabas weg, springe über am Boden ausgebreitetes Gemüse, über lebende Hühner, schlage die gleichen Haken wie er, flitze an erschrockenen Gesichtern vorbei, „Uuaahh!“, ich werde ihn nicht entkommen lassen. Er ist nur eine knappe Armlänge von mir entfernt, ich starre konzentriert auf sein schwarzes Käppi.
Und rutsche nach meinem nächsten Sprung über eine Gänseschar in einer grünlichen, stinkenden Schmiere aus. Rappele mich sofort wieder auf, spüre keinen Schmerz, aber nun ist der Dieb mir natürlich einige Sekunden voraus. 
A. steht neben mir, Pfefferspray in der Hand, daheim in Deutschland ist sie Polizistin. Sie hatte ihn auf einer parallelen Spur verfolgt, in der Absicht, ihm den Weg abzuschneiden, wir rennen weiter, nun begleitet von einigen Uniformierten, hat das Schreien doch etwas gebracht?

Nein, wir haben ihn verloren, stehen auf einem großen Platz, die uns umringenden Gendarmen machen sich gar nicht die Mühe, mich zu befragen, reden mit den mitgerannten Händlern. 
„Cicatrices“, Narben im Gesicht, so beschreiben diese den Dieb, „Fransa?“, das gilt uns, die Händler verneinen, „Safara almaniya“ (Deutsche Botschaft), antworten sie. Herrje, hat sich das schnell herumgesprochen, wer wir sind, das Auto mit dem Diplo-Kennzeichen steht am anderen Ende des Suks, wahrscheinlich hat der ganze Markt jede unserer Bewegungen registriert, hatte ich doch recht mit meinem Gefühl. 
Ich werde in einen vergitterten Einsatzbus geschoben, A. wird zur Seite gedrängt, mein Kopf wummert, das Blut rauscht und pocht gegen die Schläfen. Wir fahren zu einem älteren Gendarmen, der in seinem Auto schläft, brummelig gibt er einige Anweisungen, die jungen Kerle, „forces auxilliers“ lese ich auf ihrem Rücken, nur Hilfspolizisten, rasen weiter zur Gendarmerie.

Als ich schon auf einem kaputten Holzstuhl sitze und mich mit meiner Story bis zum Hauptkommissar durchgearbeitet habe – inklusive der fünfmal wiederholten, immens interessanten Antwort, dass ich verheiratet sei und zwei Kinder habe – kommt auch A. an. Sie war geistesgegenwärtig genug, die zu Salzsäulen erstarrten anderen Ehefrauen vom Suk einzusammeln und sich den Weg zu mir durchzufragen. Entsetzt sieht sie mich an.
„Du Ärmste! War viel Geld drinnen? Brauchst du Hilfe? Soll ich dir beistehen? Ich hab meinen Google-Übersetzer dabei!“ 
Fragend blicke ich zurück. Hilfe wobei? Das ist das Leben, shit happens, irgendwie kann ich den Dieb sogar verstehen – keinen Job, keine Kohle, und da spazieren diese Sahnehäubchen von Europäerinnen an mit richtig, richtig viel Geld in der Tasche -, es gelingt mir zumindest nicht, ihn zu hassen, und auch sonst ist jeder Ärger nutzlos. 
Nein, ich fühle mich großartig, immer noch im Adrenalinrausch, wach und klar im Kopf, in meiner eigenen absurden Actionkomödie: Der Hauptkommissar nimmt gerade meine Hand, führt sie an seine Nase, um den Geruch meiner Haut mit dem Geruch des Geldes zu vergleichen, das seine Mitarbeiter soeben einem Verdächtigen abgenommen haben. 
Seine Augen leuchten, weil nun zwei rotwangig erregte Blondinen mit zerzausten Haaren, bloßen Armen und engen Jeans in seinem kahlen, schimmligen Büro sitzen. Später wird er mir noch versichern, dass er mich beschützen wird, und mir seine Handynummer geben, für alle Fälle; er sieht ein bisschen aus wie ein ergrauter Errol Flynn und fühlt sich wohl auch so.


„Elle est aussi mariée“, sie ist auch verheiratet, bemerke ich trocken, als er sich A. zuwendet, mit der wichtigsten Frage, die einem marokkanischen Gendarmen auf dem Herzen zu brennen scheint.




Freitag, 4. April 2014

Gelangweilte Ehefrauen... und ihre Kinder

In einem Anfall von bedingungsloser Hingabe an den Augenblick (den Augenblick, als ich mich damit im Spiegel sah), habe ich mir einen roten Seidenkaftan gekauft, so sehr 1001-Nacht, dass ein starkes Verlangen nach Glamour vonnöten sein wird, um den Mut aufzubringen, ihn jemals anzuziehen.
Das war ein Expat-Hausfrauen-Moment wie aus dem Klischeelehrbuch: Geht vormittags los, um Zwiebeln zu kaufen, und kommt mit einem Abendkleid zurück. 
Wie ich auf dieses Thema komme? Eine Leserin meines Romans bemerkte kritisch, er würde nur von gelangweilten Ehefrauen handeln. Ich stimme zwar nicht zu, die anfangs gelangweilten Damen lassen es schließlich ordentlich krachen und der Arabische Frühling trägt noch sein Übriges bei.
Aber sei’s drum. Vielleicht war es an der Zeit, auch deren Geschichten zu erzählen, auch den Diplo-Hausfrauen eine Stimme zu geben. (Und, by the way, was ist Betty Draper anders als eine gelangweilte Hausfrau? Und trotzdem sieht man ihr gerne zu.) 
Ich will mich nicht mit Betty Draper vergleichen, wohl aber das Expat-Ehefrauenleben mit dem 50er-Jahre-Ehefrauenleben. Aber im positiven Sinne.
Wie lange habe ich mich innerlich gegen diese besondere Art des Lebens, in das ich aufgrund von Heirat hineingeraten bin, gesträubt. Weil mein Kopf voller Vorurteile war, voller Urteile anderer über mein Leben. Urteile, die hauptsächlich auf Neid basieren.

Ja, ich habe viel Zeit bei Coffee-Mornings verbracht, bei denen die Gastgeberinnen sich enorme Mühe gegeben hatten, und habe staunend den Flachsinn der Gesprächsbeiträge über mich ergehen lassen – und es genossen, dass ich trotz meiner spöttelnden Haltung dazugehörte. 
(Danke an all die lieben Bekannten und Freundinnen, die mich die Jahre hindurch eingeladen haben! Ich weiß es zu schätzen! Bitte weiterhin einladen!)
Aber mal abgesehen davon, dass Hausfrauen und Mütter durchaus einiges zu tun haben und eine Menge Verantwortung tragen (das muss ich niemandem weiter erläutern, oder?) – ist es nicht schön, auch Zeit übrig zu haben, die man einfach so verschwenden kann? War das früher nicht mal ein erstrebenswerter Zustand?
(Früher, bevor das Nichtstun ein so schlechtes Image bekam.) 
Als ich vor Jahren einer Freundin in Deutschland erzählte, dass wir nach den Sommerferien, wenn die (kleinen) Kinder wieder in Ankara in der Schule untergebracht waren, erst mal im Kreise der Vertrauten eine Flasche Schampus am Pool köpften, um auf unsere wiedererlangte Vormittagsfreiheit anzustoßen, bemerkte sie bekümmert: „So viel Spaß habe ich nie!“
Soll ich mich deswegen schämen?

Aber um wieder zur Langeweile zurück zu kommen. Ja, die gibt es. Sie kann Einsamkeit bedeuten oder mangelndes Amüsement, weil man sich in einer fremden Sprache so verloren fühlt, lange Zeit nur auf den Ehemann fixiert ist und Freunde fürs Leben eben nicht so schnell ins Haus flattern wie Einladungen zu Empfängen.  Sie kann geistige Unterforderung bedeuten, wie jede Mutter mit kleinen Kindern oder jede/r mit einem stumpfsinnigen Job sie kennt. Nicht jeder findet Sinn in dem, was er tut.
Langeweile kann sich zu einem wahren Monster auswachsen. 
Und jeder von uns hat solche Momente im Leben, wenn nicht hinter, dann sicherlich noch vor sich. Das ist keine Exklusivität des Diplomatenlebens.
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Aber weil so viel von Kindern die Rede war, will ich heute auch noch von ihnen erzählen. 
Das war der Wunsch eines Lesers aus A.D., und schließlich ist ihr Leben genauso langweilig, abgehoben, ungewöhnlich, abenteuerlich und schwierig wie das ihrer Diplomatenmütter (hach, wie schick das klingt!)

Der Schulalltag beginnt mit morgendlicher Hetze, nichts Ungewöhnliches also. Wenn ich die Kleine frage, wie lange sie nun schon die selben Socken trägt, antwortet sie altklug: “Woher soll ich das wissen? Sich das zu merken, nimmt zu viel Platz weg in meinem Gehirn. Den brauch ich für wichtigere Sachen.“ 
9-Jährige scheinen intuitiv Weisheiten zu kennen, die man sich mit 39 erst wieder aneignen muss: Den Kopf freizuhalten für das Wesentliche, zum Beispiel.
Und der Schulalltag endet mit hastig abends hingeschmierter Hausaufgabe, weil man den späten Nachmittag mit Lesen, Spielen und der zeitraubenden Zuwendung an verschiedene Erscheinungsformen der Unterhaltungselektronik zugebracht hat.

Bleibt also das Wochenende: 
Einladung zum Kindergeburtstag bei einer marokkanischen Freundin. 
Als wir mit 15 Minuten Verspätung erscheinen, ist noch kein anderer Gast zu sehen. Die Tochter öffnet die Tür, ihre Mutter sei noch unterwegs, um Besorgungen zu machen. Anwesend sind bereits: die Haushälterin. Die Männer, die die riesige Hüpfburg auf einer Wiese hinter dem Haus aufbauen, der DJ, der später alle mit lautem, Herzen-zum-Stolpern-bringendem Bum-Bum quälen wird, und der Kameramann, der sich sofort in Stellung bringt, als er uns sieht. Schließlich kommt auch A. mit Tüten voller Chips und Saft. 
Kamera an, Strahlegesicht an. Küsschen rechts, Küsschen links, ein entzücktes Winken und Rufen von meiner Seite Richtung Kamera wird erwartet, dann darf ich gehen. 
Später erfahre ich, dass der DJ wohl seines Amtes walten durfte, nicht aber die Männer mit der Hüpfburg. Auf der Küstenstraße unterhalb der Wiese sollte im Laufe des Nachmittages der König vorbeifahren, der Anblick von hoch aufgeblasenem Plastik mit kreischenden Kindern obenauf war wohl eine Zumutung oder eine Sicherheitsbedrohung, vielleicht auch beides; ich weiß es nicht.

Nächstes Wochenende wieder Kindergeburtstag, bei einer deutsch-marokkanischen Familie. Alles wesentlich charmanter: weniger aufgedreht, in einem bezahlbaren Preisrahmen, mit selbst gebackenem Kuchen und nur leiser Bum-Bum-Musik. Aber, die Gastgeberin deutet bekümmert auf die Baustelle nebenan, mit beständigem Motorsägenlärm. 
Auf der Suche nach Abhilfe fällt mir die magische Wirkung des königlichen Namens von neulich ein. Einige entfernte weibliche Verwandte des Königs besuchen die Schule unserer Kinder, der Titel „Lalla“, Prinzessin, ist Teil ihres Vornamens.
„Du, wir haben doch die Lallas an der Schule. Kannst du dem Bauarbeiter nicht sagen, dass sie auch noch erscheinen werden und er mit dem Krach aufhören soll?“
„Ah, hahaha, das ist genial! Ich werde ihm sagen, dass die Töchter von Moulay  Soundso – die Frauen zählen ja nicht –; ich sag ihm, dass die Töchter vom Prinzen kommen werden!“ 
Die Hausdame verschwindet. Drüben wird noch einige Minuten geflext, dann sucht der Arbeiter von seinem Gerüst aus unsere Aufmerksamkeit, verbeugt sich tief mit der Hand auf dem Herzen, macht eine abwehrende Bewegung, wir nicken huldvoll. 
Und dann ist Ruhe. 



Mittwoch, 12. März 2014

Rückkehrer Teil 2: Rom oder die Wehmut im Weltdorf

Dass es Zeit wird, Nordafrika den Rücken zu kehren, bemerkte ich beim letzten Kurzurlaub in Andalusien. Schon nach der Überfahrt von Tanger nach Tarifa fragte Blondie mit der perfekten Einfachheit, die nur 9-Jährigen zu Eigen ist, warum Spanien nicht so dreckig sei wie Marokko. 
Wie kann man diese Frage ebenso klar und präzise beantworten, ohne weit auszuholen oder unzulässig zu vereinfachen? Mit Armut, dem politischen System, kulturellen Unterschieden?
Die Kinder hielten sich nicht lange mit meiner stolpernden Suche nach einer inhaltlich (und politisch) korrekten Erklärung auf; ihre ungehemmte Begeisterung entflammte wieder: angesichts müllfreier Strände und sauberer Toiletten.

Am meisten angetan waren sie jedoch von den Zebrastreifen. 
Immer und immer wieder. 
„Mama, die halten an!“, kreischten Kleine und Große mit dem gleichen ungläubigen Entzücken.
„Die Autos halten an, wenn wir über die Straße wollen!“ – 
Und ich, ich war ergriffen von Rührung und schlechtem Gewissen. Es war vielleicht übertrieben; ich weiß, dass wir unseren Kindern mit dem Expatleben nicht nur viel zumuten, sondern auch viel geben, aber in dem Moment war der Gedanke plötzlich sehr stark: wir müssen Marokko verlassen, bevor es anfängt, uns zu zermürben.

Und nun also, ab Sommer, werden wir wegziehen: nicht nach Berlin, wie vorgesehen, sondern nach Rom. 
Vielleicht ist das Schicksal der Meinung, wir sollten uns nur langsam dem Norden annähern, noch ein bisschen wohltemperiertes italienisches Chaos mitnehmen, um keinen zu großen Kulturschock zu erleiden. 
Wie der so aussehen könnte, dafür lieferte die Große neulich einen Vorgeschmack:

Sie bat darum, für ihre bevorstehende Geburtstagsfeier die Aktzeichnungen aus unserem Wohnzimmer zu entfernen. Die Zeichnungen, mit denen sie groß geworden ist, die selbst in Libyen schon an den Wänden hingen, würden das Ehrgefühl ihrer Freundinnen verletzen! 
Das ist wohl die konservative Weltanschauung der Zwölfjährigen, noch verstärkt durch die verinnerlichten Gewohnheiten des Lebens in muslimischen Ländern. 
Nicht, dass ich das schlecht finde. 
Aber da wird sie sich ganz schön umschauen müssen in Rom, mit all den Plastiken und Bildern von überlebensgroßen Nackten: auf öffentlichen Plätzen, in den Kirchen und sogar in der Kapelle des Papstes!

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Die Abfolge der Emotionen, wenn man die Nachricht einer bevorstehenden Versetzung erhält, ist immer gleich, unabhängig von dem Land, in dem man sich auf- und den Lebensbedingungen, die man aushält. 
Zu der zarten Freude mischt sich die erstaunte Einsicht, dass irgendwie gerade jetzt, also quasi erst seit einigen Tagen, ALLES perfekt und rund läuft, nirgends mehr Sand im Getriebe knirscht und man voll bewusstem Glück jeden Moment genießen kann.
Und direkt nach der anschließenden, fiebrig-explosiven Erregung, die einem schlaflose Planungsnächte und dieses köstliche Erneuerungsgefühl beschert, kommen Abschiedsschmerz und Wehmut. 
Schon wieder so vieles zurücklassen müssen. 
Die ganze Energie nur in eine Richtung stecken. In die Zukunft. 
Manchmal kann ich das nicht.

Also ein letztes Mal wehmütig in den Süden fahren. 
An der Schabracke neben der Tankstelle süßen Minztee für die Fahrt holen, den Kindern in Agadir die Berber-Schrift zeigen, die mit ihren Dreiecken, Kreisen und Kreuzen aussieht wie Geometrie-Übungen für Erstklässler. 
Versonnen auf den silbrig glitzernden Atlantik starren, der nur hier so aussieht.

Schmerzlich-schön: wir reisen durchs Land und treffen überall auf Menschen, die wir bereits kennen. 
Sei es in Essaouira, wo wir uns mit Freunden, die sich ebenfalls dort aufhalten, spontan zum Mittagessen verabreden. Einem der schreiend und schiebend um unsere Gunst buhlenden Gastronomen im Hafen den Vorzug geben, halb verkohlten Kalamar vorgesetzt bekommen, der Jüngsten zusehen, wie sie aus den Scheren einer Riesenkrabbe Folterwerkzeug bastelt und ein Fischauge seziert, und uns von der Rauferei der benachbarten Grillbudenbesitzer unterhalten lassen.
Sei es in Agadir, wo eine Schulkameradin, die gerade nebenan in Taghazout urlaubt, die Älteste zum Surfen einlädt. 
Marokko ist ein Dorf.

Der Wiedersehens-Höhepunkt dann in Marrakesch: mein Stammcafé aus Libyen (und ein beliebter Expat-Treffpunkt) hat sich in Marokko verjüngt. Die Söhne des „O2“-Betreibers aus Tripolis versuchen seit einigen Monaten ihr Glück in Marrakesch, voller Heimweh und voller Lebenslust angesichts der neuen Möglichkeiten. Zuerst ungläubig, dann erfreut lachend begrüßen sie uns, servieren den Mädchen Pancakes mit Nutella, genau so, wie diese sie zwei Jahre lang mindestens alle zehn Tage nach der Schule gegessen haben, und ich bin tief bewegt. 
Ich kann nicht mehr nach Libyen, aber ein Teil meines libyschen Lebens kommt zu mir.

Was sagt uns das? Nicht nur Marokko, die ganze Welt ist ein Dorf! 
Und irgendwann sehen wir uns alle wieder!  
Auch die mir inzwischen so vertraute und irgendwie unterhaltsame Lebensart des Drängelns und Tricksens, des Durchwurschtelns und kreativen Grenzen-Übertretens - die werde ich bestimmt in Rom wiedersehen! 


                                                                                                   von rechts: Walid, Mouad und Zaid vom Café O2 Marrakech



Mittwoch, 5. Februar 2014

Handytausch à la Marocaine

Nach dem Regen sieht die Medina besonders erbärmlich aus. 
Nicht die rue des Consuls, wo Teppiche, Lederjacken und Handgeschnitztes für Touristen feilgeboten werden.
Aber die Mellah, das ehemalige Judenviertel, wo alte Bettler vor engen Hauseingängen kauern und selbst angeschimmeltes Gemüse noch Käufer findet.
Oder die schmalen Gassen hinter dem Sonntagstor, dem Bab el Had, wo es allerhand Elektronik zu kaufen gibt und junge Männer sich dichtgedrängt um Stände mit heißer Schneckensuppe scharen, um sich am Essen und an der Nähe zu den Anderen zu wärmen.

Dort war ich neulich unterwegs, um ein Bild rahmen zu lassen. 
Der Regen hatte nicht etwa die Straßen sauber gewaschen, sondern, zusammen mit dem Wind, den Müll an abschüssigen Stellen angesammelt.
Alte Frauen mit vor Verbitterung verzerrten Gesichtszügen, in denen nur Sozialromantiker anerkennend das „gelebte Leben“ sehen, zetern wegen irgendwas.
Einige Jungs, offenbar zusammengehörig, prügeln sich hart, bis einer von ihnen sich mit rotem Kopf, weinend und laut anklagend, von seiner Clique entfernt. Der Ältere lacht, beschwichtigend, verniedlichend. 
(So lernen die Kinder früh, wie sich Demütigung anfühlt; das Gefühl wird sich wie ein roter Faden durch ihr Leben ziehen.)

In solchen Momenten muss ich an bestimmte Sprüche denken, die durch das Internet geistern, wie: „Das Leben beginnt erst, wenn man die Komfortzone verlassen hat.“
Was wohl die Menschen hier mit ihrem herrlich unkomfortablen Leben dazu zu sagen hätten?

Auf dem Vorplatz, vor dem Nadelöhr des Toreinganges, steht eine blonde Touristin, die Arme unter der Brust verschränkt, und guckt mit versteinerter Miene ins Leere.
In dem vollbepackten Sträßchen, wo Handys zum Schleuderpreis verkauft werden, werde ich von einem schlacksigen Mann in einer schwarz-weiß gemusterter Kapuzenjacke angerempelt. Als ich mich misstrauisch zu ihm drehe und er meinen Blick auffängt, hält er schnell ein Handy in die Höhe. Ein weißes Smartphone.
„Vous cherchez un téléphone? Brauchen Sie ein Telefon?“
„Solang es nicht meines ist!“, rufe ich aus und taste instinktiv meine Handtasche ab. Alles noch da. Er sieht mich noch einen Augenblick an, wartet auf mein Kopfschütteln und hastet weiter.
Das ist ungewöhnlich. Niemand hastet. Niemand läuft schnell in Marokko.
Ich sehe ihm nach. 
Nach einigen Metern stellt er das weiße Handy beiläufig auf den schmalen Tisch eines Händlers und schreitet mit großen Schritten davon, verschwindet schließlich in der Menge.

„Werden hier auch manchmal Handys gestohlen?“, frage ich den Rahmenmacher.
„Aber nein, Madame, wo denken Sie hin?“ Dann senkt er den Kopf und murmelt verschämt, „…manchmal… das kann mal vorkommen…. das sind die Schwarzen, die Afrikaner, wissen Sie, denen kann man nicht trauen, schlimm, das ist schlimm!“

Als ich nach einer Viertelstunde zurückgehe, sind die Gassen voller Polizisten. Sie bringen sich breitbeinig in Position, lassen sich die Auslagen zeigen, schnippen einem Händler die Kappe vom Kopf. 
Die Männer zeigen nur lauernd ihre Angst. Ihre Verachtung ist ein Luxus, dem sie erst frönen werden, wenn die Polizisten sich zurückgezogen haben. Diese werden natürlich nicht fündig, sie nutzen nur die Gelegenheit, sich aufzuspielen, ihre Macht zu genießen.
(Macht, sichtbare, fühlbare Macht ist DAS Thema in Marokko.)

Ich laufe aus einiger Entfernung wieder an der blonden versteinerten Miene vorbei. Neben ihr steht der schlaksige Mann, der es vorhin noch so eilig hatte. Er ist dabei, sie mit aufgedrehter Unterwürfigkeit benommen zu quasseln.

In der Hand hält er ein kleines rotes Handy zum Aufklappen. 




Freitag, 17. Januar 2014

Einkaufen in Rabat


Dass bei Regen und Dämmerlicht kaum jemand seine Scheinwerfer anmacht und ich auf der Fahrt zum Einkaufen fast nichts sehe; dass ich nur in Zeitlupentempo auf den Parkplatz manövrieren kann, weil rechts in der Einfahrt ein Auto geparkt ist (das kommt schon mal vor, wenn die Leute nicht zu weit laufen wollen) und links eine Reihe von Einkaufswägen abgestellt ist; dass mein Auto alle paar Monate neue Dellen von diesen herrenlos herumtrollenden Einkaufswägen bekommt – geschenkt.

Im Supermarkt stinkt es. Nach Toilette und Fischabfällen. 
Mandarinen kosten umgerechnet 50 Cent das Kilo. 
Ich schiebe unter großer Kraftanstrengung den alten, quietschenden, stetig nach rechts abdriftenden Einkaufwagen durch die schmalen Gänge.

Als ich zur Kasse komme, sehe ich einen vollen Einkaufskorb auf dem Boden, aber weit und breit niemanden, dem er gehören könnte. Nachdem ich alle meine Waren auf das Band gelegt habe, kommt die Dame, die den Korb bestückt, in die Warteschleife vor die Kasse gestellt und dann noch Butter und Milch und Karotten und Fleisch und Nudeln und Paprika geholt hat. Sie kommt geräuschvoll. Rempelt mich 'versehentlich' an. Als ich mich umdrehe, blickt SIE MICH vorwurfsvoll an. Schließlich murmelt sie nachsichtig: "C'est pas grave. Das macht nichts."

Ich wende mich wieder meinem Vordermann zu. Der will gerade bezahlen, muss jedoch feststellen, dass er weder über Bargeld noch über funktionierende Karten verfügt. Das ist ihm aber nicht wirklich unangenehm. Er schäkert ein bisschen mit der Kassiererin, zeigt auf das obere Stockwerk, die Kassiererin nickt. Und dann schlurft er seelenruhig weg, total gechillt, die Waren vor der Kasse belassend, auf der Suche nach einem Geldautomaten. Selbstverständlich kann die Kassiererin nicht den Vorgang abschließen und währenddessen die anderen Kunden bedienen. Also warten. 

Ich schiele nach links. Lohnt es sich, wieder alles einzupacken und mich in die Nachbarschlange einzureihen? Eine Dame von großem Umfang in einer quietschblauen Jellaba packt ruhig einen Artikel nach dem anderen in die dünnen Plastiktüten. Über dieses gemächliche Tempo will ich mich gar nicht mokieren, das habe ich inzwischen zu schätzen gelernt. Wenn ich in Deutschland bei Aldi bin, komme ich mir vor wie eine Vorvorgestrige, aufgescheucht durch das Hypertempo der Jugend, bei dem sie nicht mithalten kann.

Soweit läuft es in der Schlange nebenan also gut. 
Aber halt! 
Die Kassiererin stockt. 
Blickt auf. 
Blickt wieder auf ihre Kasse. Die will nicht mehr. 
Langsam wendet die Kassiererin ihren Kopf wieder nach oben, sieht ihre Kundin an. 
Sieht sich ratlos im Raum um. 
Wendet sich wieder ihrer Kasse zu. 
Starrt sie an. 
Sieht sich wieder im Raum um. Kaugummikauend. Schleichend.
Erklärt der Kundin irgendetwas. 
Steht schließlich langsam auf. 
Brüllt markerschütternd: "M'hammed!!" 
Einige Kassierer heben kurz den Kopf. Aber niemand fühlt sich angesprochen. Nichts passiert. 
Sie setzt sich wieder. 
Wartet, den absplitternden Nagellack auf ihren Fingernägeln betrachtend. 
Es passiert immer noch nichts. 
Ihre Speckrollen zeichnen sich deutlich unter dem alten Kittel ab. Sie ist stark geschminkt, blaue glänzende Augen, rote Lippen. Obwohl sie jung ist, sieht ihr Gesicht schon verbraucht aus. Fleckige Haut, Kuhaugen, schiefe Zähne. 
Es ist faszinierend, wie wenig der Gedanke an die wartende Menge sie erschüttert. Als weder M'hammed noch sonst jemand kommt, um ihr zu helfen, steht sie nach einigen Minuten umständlich auf und wackelt wortlos davon.

Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird, denn inzwischen läuft es in meiner Schlange wieder. Ein Dank an die Kasse links für die kurzweilige Unterhaltung in der Wartezeit.

Ich habe alles eingepackt, fahre mit dem Laufband nach oben. Als es zu Ende geht, bekommt die alte Dame vor mir ihren Wagen nicht weg vom Band. Er klemmt, lässt sich nicht schieben. Die Frau hat offenbar das selbe kaputte Wagenmodell wie ich und die Reaktionsgeschwindigkeit der Kassiererin von vorhin. 
Hilflos – und sich der Dringlichkeit der Situation wohl nicht bewusst -, blickt sie sich um. TACK! Da bin ich schon mit meinem Einkaufswagen aufgefahren, die Wägen sind verkeilt. TACK. Die nachkommenden Kunden werden nach oben gespült, jede Sekunde einer mehr. TACK. TACK. Drücken von hinten gegen mich, immer stärker. 
PANIK
Niemand kommt auf die Idee, nach hinten unten auszuweichen. 
Immer mehr Menschen DRÜCKEN, DRÜCKEN. 
Schließlich gelingt es einigen Männern, die ineinander verhakten Wägen zu lösen und so den Pfropfen zu öffnen, die gedrängte Menge löst sich auf. 

Da außer mir niemand aufgewühlt zu sein scheint, stellt sich die Frage: 
Warum klappt das nicht so recht mit mir und dem Fatalismus? 















Donnerstag, 9. Januar 2014

Marrakesch subjektiv

Kasbah Amerdihil, Dades-Tal




This one goes out to Meriem. 

Marokko ist ein tolles Reiseland. 
Das steht nicht im Widerspruch zu dem Umstand, dass ich mich in Rabat langweile. Und dass mir dieses bequeme Leben zuweilen auch gefällt; wenn ich mit Freundinnen bei „Paul“ frühstücke, oder wenn ich die weiche Abenddämmerung in meinem kleinen Schlauchgarten genieße. Manchmal erfasst mich dabei eine diffuse Sehnsucht, immer noch, nach so vielen erfüllten Träumen (Liebe, Reisen, Schreiben). 
Dann zieht es in der Brust, nur weil der Himmel sich blaurosa verfärbt, und die schattenumspielten Palmen und großen Korkeichen auf dem Nachbargrundstück so hübsch anzusehen sind. 
Es ist, als raunte es in den Baumkronen: „Es gibt noch mehr… was weißt du schon…. es gibt noch mehr, dein Herz ist nicht voll; so vieles auch, was du zurückgelassen hast und nie mehr sehen wirst….“  
In Wirklichkeit raunt natürlich niemand, unter den Bäumen patrouillieren nur die Soldaten, die den monströs großen Fuhrpark des Königs bewachen und sich barsche Kommandos zurufen oder unromantisch vor sich hin rotzen.

- Aber ich schweife ab; über das Reiseland Marokko wollte ich schreiben. 
Dem Hohen Atlas kann ich nicht viel abgewinnen, weil er so baumlos, trocken und staubig ist. Manchen gefallen die roten Felsen, die übergehen in rote Erde. Aber ich lebe seit 14 Jahren in Ländern, in denen dichte Wälder eine Seltenheit sind, und meine Augen sehnen sich nach grün. Die Alpen und Voralpen – ein Hit! Kein Vergleich zum Hohen Atlas.

Was bleibt dann noch? Marrakesch. Ist zweifellos polarisierender als die Hauptstadt. Ärmer, dreckiger, lauter, reicher, touristischer, schöner, hässlicher, verdorbener. Energetischer.

Meine erste Reise nach Marrakesch unternahm ich, nachdem wir uns in Rabat eingerichtet hatten und eine Freundin aus Deutschland mich besuchte. 
Sie war beeindruckt, wie gut ich in Rabat zurechtkam, also war es klar, dass ich auch für unseren Marrakesch-Trip souverän alles regeln würde. Die Sorge, ob ich schon bereit dazu war, mit dem Auto nach und durch Marrakesch zu fahren, rutschte demnach weit nach hinten in meinen Kopf. 

Alors: ab hinters Steuer und rein ins Abenteuer. 
Immer schön nach den alten Libyen-Regeln fürs Autofahren: Niemals die Spiegel benutzen. Niemals blinken, nur drängeln. Wer bremst, zeigt nur, was für ein Schisser er ist. Der Größere – also ich – hat Vorfahrt.
Und ganz wichtig: keine Angst. Betrachte es… als ein Spiel.

Ich fuhr also so halsbrecherisch wie nötig und ortsüblich angemessen, und meine Freundin staunte und fotografierte Mopedfahrer, die sich mit Hammel auf dem Rücken durch die Autoreihen schlängelten. Das große muslimische Opferfest stand bevor, und jeder versuchte irgendwie, an ein lebendes Schaf zu kommen und es nach Hause zu transportieren.

Und dann, ta-dam: „der Platz“. Jemaa el-Fna.  
Tja. Es ist immer schwierig, wenn Orte schon hoch gelobt wurden, und, nun ja, ich lese viel, also lese ich auch viel Reiseliteratur.

Es war kein Wow-Erlebnis. Zunächst ist Marrakesch viel touristischer als Rabat, und gerade auf dem Platz der Gehenkten wimmelt es von Ausländern. Von Barbiepuppen in Unterwäsche. Von Individualreisenden, die alle die gleichen Haremshosen, made in India, tragen.
Die gequälten Äffchen, die Kunststücke aufführen, die gequälten Schlangen, die sich schon den ganzen Nachmittag wie im Delirium zur scheppernden Flöten-Trommel-Musik bewegen. 
Gefällt mir nicht. 
Die nicht minder gequält aussehenden Besitzer der Tiere, mit stumpfen Augen, schwarzen Zähnen und wer-weiß-welchen Verdauungsproblemen. Und dann das Gerufe und Gezerre von allen Seiten, selbstverständlich in Deutsch, als ob man mit Gold um sich schmeißen würde.

Magie hat der Jemaa el-Fna dennoch, man muss nur genauer hin- und vom Spam wegsehen. Er ist immer noch vorrangig Unterhaltung für die Einheimischen, die jeden Abend in Massen hinströmen, um sich zu treffen und den Geschichtenerzählern zu lauschen. Die gibt es tatsächlich. Und sie sind ganz und gar nicht touristisch aufbereitet. Wenn man sich so einer Menschenansammlung nähert und versucht, über die Schultern der Anwesenden zu spähen, kann es passieren, dass das verhutzelte, verschmitzt guckende, gestenreich erzählende Männchen in der Mitte plötzlich laut ausruft und auf einen zeigt.
Der will Geld, denke ich vorschnell. 
Aber nein, weit gefehlt, er will mich nur vorführen. Während sich alle Köpfe neugierig nach mir umdrehen, redet er schnell auf mich ein, konsequent nur arabisch. Mein fragendes Gesicht wird umgehend spöttisch kommentiert, er hat alle Lacher auf seiner Seite und die Menge wendet sich wieder von mir ab.
So geht das weiter.
Ein großer Kreis von Menschen um ein Geschicklichkeitsspiel, bei dem man Flaschen angeln muss. Ein Grüppchen um jugendliche Boxer. Nein, das will ich nicht unterstützen.
Weiter. 
Ein kleiner Kreis, nur Männer, die ruhig den Kopf gesenkt halten. Das wirkt geheimnisvoll. Ich trete näher, sehe seltsame Gegenstände auf dem Boden: ein Straußenei, einen ausgestopften Leguan, Muscheln. Zauberzubehör, wie ich später erfahre.  Der Mann in der Mitte hält die Hände vor der Brust, die Handflächen nach oben. Von den leise gemurmelten Worten kann ich nur „Allah“ und „Bismillah“ verstehen. 
Er betet! Erschrocken weiche ich zurück, ich wollte niemanden stören.

Der Platz ist bezaubernd, rau, echt.  Zeigt etwas von der Textur der marokkanischen Seele, ihrem Aberglauben und ihrem Spieltrieb.

Das war vor über zwei Jahren, seitdem war ich immer wieder da. Mit meiner Mutter und den Kindern, mit meinem Mann und den Kindern, mit einer anderen Freundin, mit dem Zug, alleine mit den Kindern. Eine Freundin, die mich aus Ghana besucht und mit der ich mich fast nur von Dachterrasse zu Dachterrasse bewegt hatte, riet mir, alle 4 Monate nach Marrakesch zu fahren, um mein Reservoir an Inspiration aufzufüllen. Das hab ich nicht geschafft.

Meine Töchter lieben übrigens den Platz. Vor allem die Jüngste, 9 Jahre alt, blond und blauäugig. Sie weiß um ihr Aussehen, ihre Wirkung ist bereits Libyen-erprobt, und sie verlässt sich darauf. Blondie bekommt auf jedem Suq etwas geschenkt, das ist hier nicht anders. Ein kleines Lederkamel, einen aus Holz gedrechselten Anhänger, noch eine Runde beim Flaschenspiel…

Was es sonst noch gibt in Marrakesch? Museen, Koranschulen, Paläste, Saint Laurents Garten, Restaurants in prächtigen Riads. Die Dachterrassen der Restaurants. Kann man, muss man aber nicht gesehen haben. Es ist die Energie der Stadt, die ein Erlebnis ist. Die rohe Härte des Überlebenskampfes, die man ebenso spürt wie die sprühende Lebenslust der Jugend. 

Und die Erfahrung, dass das ganze scheinbare Chaos, dass alle Unordnung einen Sinn ergibt und zielführend ist – diese Erfahrung kann sogar existenziell sein.

Nur die Taxifahrer, die sind wirklich die Pest!




Montag, 6. Januar 2014

Rückkehrer Teil 1: Rabat

Okay. 
Das hier sollte auch ein Nomaden-Rückkehrer-Blog sein. Weil wir, nach 14 Jahren um die Welt tingeln, im Sommer nach Deutschland umziehen werden. 
Und das wird, so befürchte ich, der schlimmste Kulturschock von allen.

Aber  nach dem Heimaturlaub (hört sich an wie Fronturlaub, nicht wahr? Ist aber der Fachbegriff im Behördendeutsch) ist jetzt zunächst mal wieder die Umstellung auf Marokko angesagt. Wobei zwei Wochen bei Muttern in Franken nicht zu vergleichen sind mit Arbeit und Alltag in Berlin. 
Und ich von den zwei Wochen in Deutschland dieses Jahr so gut wie nichts mitbekommen habe, weil ich sie mit der Veröffentlichung und Bewerbung meines Buches zugebracht habe. 
Als ein Freund mich am 26. Dezember im Chat fragte, wie das Fest gewesen sei, schrieb ich verwirrt zurück: welches Fest?

Also, wieder Rabat:  Heimkommen in das schöne geräumige Haus mit großem Wintergarten im Salon und Möbeln in warmen Afrika-Farben. Der Geruch nach Feuchtigkeit und modrigem Holz, der so gar nicht zur Eleganz der Einrichtung passen will. Passt ebenfalls nicht zur Eleganz: die wuchernde Unordnung im ersten Stockwerk. (– Nee, das krieg ich wohl nie in den Griff.)

Feuchtigkeit auch am nächsten Morgen, die Luft von draußen riecht nach Zwiebeln und kalter Waschküche – so, wie es manchmal im Haus nach Pisse riecht. 
Natürlich pinkelt weder jemand auf den Teppich, noch schießt er mit rohem Zwiebelsaft durch den Garten. Das alles macht nur die Feuchtigkeit, die sich überall festsetzt und außer Schimmel die seltsamsten Geruchskreationen hervorbringt. (Unnötig zu erwähnen, dass ich eine sehr feine Nase habe, oder?)

Die Klospülung klemmt. 
Die Lampe im Bad ist kaputt. 
Das war’s dann auch schon. Nicht zu vergleichen mit den kleinen und größeren Katastrophen, die uns in anderen Ländern bei der Heimkehr in unser Haus erwartet hatten.

Mittags kommt dann die Sonne raus, der Himmel lacht hell auf mich herunter, und ich kann mich in eine windstille Ecke der Terrasse setzen. 
Rabat ist schön. 
Aber – und es ist das ABER, das einem über lange Zeit hinweg alles madig macht, das ABER, worauf es letztlich ankommt - es ist recht leidenschaftslos. 
Uninspirierend. 
Die fade Atmosphäre ist das, was die Leute verschweigen, wenn sie auf FB Fotos von sich unter Palmen oder am Strand posten, um Bekannte in Deutschland neidisch zu machen. Sie verschweigen auch die Hundekacke im Sand, die niemand wegräumt, und dass die Strömung so stark ist, dass man nur selten unbesorgt schwimmen kann. Dass es an keinem Strand in der Umgebung von Rabat Umkleidekabinen, Duschen und Toiletten gibt, dafür ab Mai aber ganz viele Menschen.

(An einem verlassenen Traumstrand brauch ich keine Toiletten, aber an einem Strand, den Tausende frequentieren…  – hm, da will ich gar nicht weiter darüber nachdenken.)


Halt, einen hab ich vergessen: es gibt einen Strandclub in Richtung Casablanca, nicht umwerfend schön, aber dafür teuer, wo man sich für 40€ ein Tagesbett mieten kann. Dafür ist die Dusche gratis, die Toiletten auch - was aber nicht zwangsläufig bedeutet, dass sie sauber sind.

Soviel zur Momentaufnahme Rabat. Nicht umfassend, dafür subjektiv.