Mittwoch, 12. März 2014

Rückkehrer Teil 2: Rom oder die Wehmut im Weltdorf

Dass es Zeit wird, Nordafrika den Rücken zu kehren, bemerkte ich beim letzten Kurzurlaub in Andalusien. Schon nach der Überfahrt von Tanger nach Tarifa fragte Blondie mit der perfekten Einfachheit, die nur 9-Jährigen zu Eigen ist, warum Spanien nicht so dreckig sei wie Marokko. 
Wie kann man diese Frage ebenso klar und präzise beantworten, ohne weit auszuholen oder unzulässig zu vereinfachen? Mit Armut, dem politischen System, kulturellen Unterschieden?
Die Kinder hielten sich nicht lange mit meiner stolpernden Suche nach einer inhaltlich (und politisch) korrekten Erklärung auf; ihre ungehemmte Begeisterung entflammte wieder: angesichts müllfreier Strände und sauberer Toiletten.

Am meisten angetan waren sie jedoch von den Zebrastreifen. 
Immer und immer wieder. 
„Mama, die halten an!“, kreischten Kleine und Große mit dem gleichen ungläubigen Entzücken.
„Die Autos halten an, wenn wir über die Straße wollen!“ – 
Und ich, ich war ergriffen von Rührung und schlechtem Gewissen. Es war vielleicht übertrieben; ich weiß, dass wir unseren Kindern mit dem Expatleben nicht nur viel zumuten, sondern auch viel geben, aber in dem Moment war der Gedanke plötzlich sehr stark: wir müssen Marokko verlassen, bevor es anfängt, uns zu zermürben.

Und nun also, ab Sommer, werden wir wegziehen: nicht nach Berlin, wie vorgesehen, sondern nach Rom. 
Vielleicht ist das Schicksal der Meinung, wir sollten uns nur langsam dem Norden annähern, noch ein bisschen wohltemperiertes italienisches Chaos mitnehmen, um keinen zu großen Kulturschock zu erleiden. 
Wie der so aussehen könnte, dafür lieferte die Große neulich einen Vorgeschmack:

Sie bat darum, für ihre bevorstehende Geburtstagsfeier die Aktzeichnungen aus unserem Wohnzimmer zu entfernen. Die Zeichnungen, mit denen sie groß geworden ist, die selbst in Libyen schon an den Wänden hingen, würden das Ehrgefühl ihrer Freundinnen verletzen! 
Das ist wohl die konservative Weltanschauung der Zwölfjährigen, noch verstärkt durch die verinnerlichten Gewohnheiten des Lebens in muslimischen Ländern. 
Nicht, dass ich das schlecht finde. 
Aber da wird sie sich ganz schön umschauen müssen in Rom, mit all den Plastiken und Bildern von überlebensgroßen Nackten: auf öffentlichen Plätzen, in den Kirchen und sogar in der Kapelle des Papstes!

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Die Abfolge der Emotionen, wenn man die Nachricht einer bevorstehenden Versetzung erhält, ist immer gleich, unabhängig von dem Land, in dem man sich auf- und den Lebensbedingungen, die man aushält. 
Zu der zarten Freude mischt sich die erstaunte Einsicht, dass irgendwie gerade jetzt, also quasi erst seit einigen Tagen, ALLES perfekt und rund läuft, nirgends mehr Sand im Getriebe knirscht und man voll bewusstem Glück jeden Moment genießen kann.
Und direkt nach der anschließenden, fiebrig-explosiven Erregung, die einem schlaflose Planungsnächte und dieses köstliche Erneuerungsgefühl beschert, kommen Abschiedsschmerz und Wehmut. 
Schon wieder so vieles zurücklassen müssen. 
Die ganze Energie nur in eine Richtung stecken. In die Zukunft. 
Manchmal kann ich das nicht.

Also ein letztes Mal wehmütig in den Süden fahren. 
An der Schabracke neben der Tankstelle süßen Minztee für die Fahrt holen, den Kindern in Agadir die Berber-Schrift zeigen, die mit ihren Dreiecken, Kreisen und Kreuzen aussieht wie Geometrie-Übungen für Erstklässler. 
Versonnen auf den silbrig glitzernden Atlantik starren, der nur hier so aussieht.

Schmerzlich-schön: wir reisen durchs Land und treffen überall auf Menschen, die wir bereits kennen. 
Sei es in Essaouira, wo wir uns mit Freunden, die sich ebenfalls dort aufhalten, spontan zum Mittagessen verabreden. Einem der schreiend und schiebend um unsere Gunst buhlenden Gastronomen im Hafen den Vorzug geben, halb verkohlten Kalamar vorgesetzt bekommen, der Jüngsten zusehen, wie sie aus den Scheren einer Riesenkrabbe Folterwerkzeug bastelt und ein Fischauge seziert, und uns von der Rauferei der benachbarten Grillbudenbesitzer unterhalten lassen.
Sei es in Agadir, wo eine Schulkameradin, die gerade nebenan in Taghazout urlaubt, die Älteste zum Surfen einlädt. 
Marokko ist ein Dorf.

Der Wiedersehens-Höhepunkt dann in Marrakesch: mein Stammcafé aus Libyen (und ein beliebter Expat-Treffpunkt) hat sich in Marokko verjüngt. Die Söhne des „O2“-Betreibers aus Tripolis versuchen seit einigen Monaten ihr Glück in Marrakesch, voller Heimweh und voller Lebenslust angesichts der neuen Möglichkeiten. Zuerst ungläubig, dann erfreut lachend begrüßen sie uns, servieren den Mädchen Pancakes mit Nutella, genau so, wie diese sie zwei Jahre lang mindestens alle zehn Tage nach der Schule gegessen haben, und ich bin tief bewegt. 
Ich kann nicht mehr nach Libyen, aber ein Teil meines libyschen Lebens kommt zu mir.

Was sagt uns das? Nicht nur Marokko, die ganze Welt ist ein Dorf! 
Und irgendwann sehen wir uns alle wieder!  
Auch die mir inzwischen so vertraute und irgendwie unterhaltsame Lebensart des Drängelns und Tricksens, des Durchwurschtelns und kreativen Grenzen-Übertretens - die werde ich bestimmt in Rom wiedersehen! 


                                                                                                   von rechts: Walid, Mouad und Zaid vom Café O2 Marrakech



2 Kommentare:

  1. Ich bin durch Zufall auf diesen Block gestoßen und muss jetzt mal einen Kommentar hier hinterlassen. Wir waren von 2006 bis 2009 in Libyen und haben die Anfänge des O2 mitbekommen - wie sich Expat-Frauen den Weg in das Café gebahnt haben. Auch ich habe so manche Stunde dort verbracht und einfach mal nur aufs Meer geschaut. Mittlerweile sind wir in Indien.... Und auch hier haben wir mal wieder festgestellt - die Welt ist ein Dorf ;-)

    Viele Grüße aus Mumbai
    Melanie

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  2. "Wie sich die Expat-Frauen den Weg in das Café gebahnt haben", weil es der einzige Ort war, an dem sie nicht begafft wurden --- Danke für dein Feedback, Melanie!

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